Bewusstsein

Bewusstsein

Die Erfahrung lehrte mich, dass der Schlüssel für das konstruktive soziale Miteinander das Bilden von Bewusstsein ist. Daher möchte ich einige Gedanken dazu voran stellen

Wodurch bildet sich Bewusstsein? Nehmen wir als Beispiel die Frage, wie man Bewusstsein von „heiß“ bekommt. Allein über den Verstand komme ich nicht dazu. Denn wenn ich von einem Physiker erklärt bekomme, was heiß ausmacht, und wenn ich es tatsächlich verstehe, so habe ich noch kein Bewusstsein davon. Erst wenn ich die Folgen von heiß empfunden habe, stellt sich dieses ein. Also brauche ich, damit sich Bewusstsein bildet, die Wahrnehmung mithilfe der Sinne, die Empfindung der Wirkung, das Verstehen von Ursache und Wirkung und ein Betrachten aus dem Abstand heraus. Ich mache mich also ganz klein, so klein wie das siebte Geißlein, gehe durch die Erfahrung hindurch, werde an ihr wach für Qualitäten, begreife Zusammenhänge und entferne mich schließlich davon, um innezuhalten und die Erfahrung gleichzeitig von außen und von innen zu betrachten. Geschieht all dies gleichzeitig, entsteht eine neue Kraft, das Bewusstsein. Es überbrückt die alte Polarität von Herz und Verstand, ja, es bringt beide zur fruchtbaren Ergänzung und überhöht sie gleichzeitig.

Was bedeutet das nun für das soziale Miteinander? An dieser Stelle möchte ich gerne ein Ereignis aus der eigenen Erfahrung einbringen.

Wir wollten vor Jahren in unserem Garten an einer sehr exponierten Stelle eine Birke pflanzen. Rein rechtlich wäre das möglich gewesen unter Einhaltung der drei Meter Abstand zu den Nachbargrundstücken. Doch da uns klar war, dass ein Baum, der über 30 Meter hoch werden kann, das Leben in einem viel größeren Umkreis beeinflusst, haben wir unsere Nachbarn gefragt. Die einen hätten sich gefreut. Die andere Nachbarin aber reagierte so, dass erlebbar wurde, dass sie sich über die Birkenkätzchen, „die Würmli“, wie sie sagte, weniger freuen würde, die ja auch in ihren Garten und auf ihre Wege fallen würden. Obwohl sie die Rechtmäßigkeit unseres Ansinnens anerkannte und es schlussendlich freundlich erduldet hätte, schwang in ihrer Reaktion auf unsere Frage ein deutlich wahrnehmbares negative Gefühl mit. Wir empfanden den Stress mit (aus ihrem Empfinden wurde unser Mitempfinden), den ein solcher Baum bei ihr auslösen würde. Als wir uns zu Hause an den Tisch setzten und eine Entscheidung anstrebten, wurde uns klar, dass der Baum in unserer Nachbarin Jahr für Jahr einen Groll erzeugen würde, der sich u. U. an irgend einer anderen Stelle völlig unerwartet Luft schaffen würde. Also entschlossen wir an dieser Stelle eine Rose anstelle einer Birke zu pflanzen, welche übrigens mit die schönste geworden ist, die ich kenne. Jahre danach zerschoss einer unserer Söhne mit dem Ball eine Tonfigur, welche unsere Nachbarin zum Schmuck vor ihrer Haustüre stehen hatte. Ich ging gleich zu ihr und wir regelten die Sache äußerst entspannt, ja sogar humorvoll.

Aus meiner Arbeit als Mediator weiß ich, nach welchem Muster sich viele Konflikte entwickeln, insbesondere Nachbarschaftskonflikte. Nach diesem Muster hätte sich unsere Situation anders entwickeln können: Wir hätten den Baum gepflanzt, weil es ja schließlich unser gutes Recht wäre. Der Groll der Nachbarin wäre angewachsen mit jedem Würmchen, das auf ihr Grundstück gefallen wäre. Ihr Verstand hätte gesagt: die dürfen das, aber ihre Empfindung wäre eine ganz andere gewesen. Der Verstand hätte erst einmal gesiegt und sie hätte nichts tun können, da das Recht nicht auf ihrer Seite gewesen wäre. In dem Moment aber, in dem das Recht zu ihr gekommen wäre durch einen Schaden, der ihr zugefügt wurde, wäre der Groll ans Licht gekommen. Sie hätte u. U. unseren Sohn über die Maßen böse angefaucht, dass dieser weinend zu uns gekommen wäre. Wir, die Sache mit der Birke überhaupt nicht im Bewusstsein, hätten den Schaden beglichen mit dem deutlichen und energiegeladenen Hinweis, dass wir so nicht mit unserem Sohn sprechen lassen… – Am Ende einer solchen Ereigniskette ist dann Hundekot, der über den Zaun geworfen wird, ein zerkratztes Auto und schlussendlich ein Umzug, um die Gewalttätigkeiten nicht eskalieren zu lassen. Dieses Szenario ist nicht an den Haaren herbei gezogen, sondern es beschäftigt tagtäglich die deutschen Gerichte. (Nachbarschaftsstreitereien gehören zu den am häufigsten verhandelten Fällen vor Gericht).

Was passierte also? Dadurch, dass wir nicht nur die Zusammenhänge von Ursache und Wirkung – Würmli, Groll, Nachbarschaftsstreit – verstanden haben, sondern die Belastung mitempfunden haben, welche für unsere Nachbarin und schließlich auch für uns entstanden wäre, und Bewusstsein von den Folgen unserer Handlungen bildeten, haben wir sehr gerne auf die Birke verzichtet. Wäre unser Interesse oder Bedürfnis in Bezug auf die Birke jedoch genau so stark gewesen wie die Abneigung unserer Nachbarin dieser gegenüber, dann wäre es hilfreich gewesen, wenn wir so miteinander gesprochen hätten, dass auch sie Bewusstsein von unseren Bedürfnissen und Interessen bekommen hätte. Vielleicht wäre sie dadurch zu einer anderen Haltung gekommen und sie hätte begonnen sich mit uns an der Birke zu freuen. Oder eben nicht und wir hätten uns gemeinsam auf Lösungssuche gemacht: Was genau ist störend? Welche Maßnahmen könnten das abmildern? Wie können wir dazu beitragen, dass in ihr der Groll nicht wächst? …usw. – eben Bewusstsein in die Sache gebracht.

Was war also effektiv? Nicht die Delegation von Entscheidungen an Gemeinderäte oder Gerichte. Da beschäftigen sich viele Leute über komplizierte und ausgeklügelte Verfahren mit Fragen, die sie im Grunde überhaupt nicht berühren. Effektiv war, dass die Menschen, die davon betroffen waren, sich zusammen gesetzt haben und dadurch zu einem Entschluss gekommen sind, indem sie sich Bewusstsein gebildet haben von der Wirkung ihrer Handlungen. Effektiv war, dass die Menschen in den Mittelpunkt gerückt sind und nicht eine Sache oder ein Recht. Wenn man konsequent nachdenkt, so sieht man, dass es im Zwischenmenschlichen, im Sozialen, keine Sachlichkeit geben kann, sondern nur Menschlichkeit. Sachlich kann besprochen werden, welche Glühbirne in welche Fassung passt, aber nicht, welche Wirkungen auf die Mitmenschen vom eigenen Handeln ausgehen. Das ist nur möglich, wenn wir wahrnehmen, mitempfinden, verstehen und dann so in die Zukunft blicken, dass wir die Konsequenzen unseres Tuns anschauen – indem wir eben Bewusstsein bilden.